2. Grundlagen
2.3.4. Die Rolle des Heimbewohners
Ist es die Rolle des Heimbewohners, keine mehr zu spielen? Was erwartet man von einem Heimbewohner überhaupt und welches Bild möchte der Heimbewohner von sich selbst vermitteln? Und welche Auswirkungen hat dies auf das Kontaktverhalten? Als soziale Rolle wird in der Soziologie allgemein die Summe der Erwartungen und Ansprüche von Handlungspartnern, einer Gruppe, größerer sozialer Beziehungsbereiche oder auch der gesamten Gesellschaft an das Verhalten und an das äußere Erscheinungsbild des Inhabers einer sozialen Position, also des Rollenträgers, bezeichnet. Nur wenn sich die verschiedenen Rollenerwartungen innerhalb eines sozialen Gebildes gegenseitig ergänzen, funktioniert dieses und bleibt stabil.
Die Erwartungen, die somit an einen Bewohner eines Altenheims gerichtet werden, sollen zum einen bewirken, dass dadurch bestimmte Verhaltensweisen für den Bewohner festgelegt - beispielsweise Unselbständigkeit oder Hilflosigkeit - und besser befolgt werden, um keine "Bestrafungen" (z. B. Missachtung des Pflegepersonals oder entgegengebrachte Antipathie, weil der Bewohner durch zuviel Selbständigkeit und Eigeninitiative den Pflegealltag stört) zu riskieren. Zum anderen aber drückt sich in den Erwartungen auch die Annahme aus, dass sich der Bewohner genau in diesem Sinne verhält, so dass eine verlässliche Vorhersage in Bezug auf das Handeln möglich wird. Je stärker die Rollenerwartungen verinnerlicht bzw. in der eigenen Persönlichkeit verankert werden, desto mehr wird eine Berechenbarkeit und Voraussagbarkeit des Handelns des Bewohners ermöglicht. Die Handlungserwartungen, die an den Heimbewohner gestellt werden, umfassen beispielsweise soziale Distanz zum Pflegepersonal, Einhaltung von zeitlichen Vorgaben (Mahlzeiten, Mittagsruhe, Nachtruhe), Folgsamkeit in Bezug auf ärztliche oder pflegerische Entscheidungen und Anpassung an sämtliche Regeln, die vom Haus aus vorgegeben sind. Förderlich für eine Kontrolle der Einhaltung solcher Handlungserwartungen ist in erster Linie die Abhängigkeitsbeziehung zwischen Bewohner und Pflegeperson, weil abweichendes Verhalten Sanktionen nach sich zieht, die sich für einen selber als unvorteilhaft ergeben (z.B. Zwangsernährung bei Verweigerung der Mahlzeiten). Innerhalb des Heimgefüges ergeben sich nach Voss für den Heimbewohner zwei verschiedene Rollen, so muss er "sowohl in seiner in den Berufszusammenhang eingepassten Krankenrolle als auch in seiner Rolle als Privatmensch innerhalb einer Gesundheitsorganisation begriffen werden" (Voss 1990: 38). Das bedeutet, der Bewohner begreift sich auf der einen Seite als Mitglied der Organisation Pflegeheim und somit als Rollenträger mit eingeschränktem Aktionsradius, und auf der anderen Seite als Interaktionspartner, der unabhängig von vorgegebenen Erwartungen sein Handeln zu bestimmen versucht, das sich aus seiner individuellen Persönlichkeitsstruktur ergibt. Die Verschmelzung zweier Rollen, die sich so nur bedingt ergänzen, führt zur Unfähigkeit des Bewohners, sich über die auf sich selbst entfallenden Rollen Klarheit zu verschaffen. Das Interaktionsverhalten, das jedoch an klare Rollenvorstellungen geknüpft ist, erfährt so eine Unsicherheit, die unmittelbar das Kontaktverhalten zu anderen Bewohnern beschränkt, da nicht klar ist, welche Erwartungen seitens der anderen an das eigene Handeln bestehen. Des Weiteren differenziert Voss noch zwischen der "institutionellen Krankenrolle" im Sinne einer Mitgliedschaftsrolle in der Institution und den damit verbundenen Rollenverpflichtungen, der "Patientenrolle", also der Bewohner nicht als Persönlichkeit sondern als Träger eines Krankheitssyndroms und der "Positionsrolle", der Bewohner als "guter" (wünschenswertes Verhalten) oder "schlechter" (störendes Verhalten) Patient bzw. Klient. Charakteristisch für die "institutionelle Krankenrolle" ist der Dienstleistungszusammenhang zwischen den Mitgliedern "Personal" und "Bewohner", wodurch, so Voss, die Organisation "von deren individuellen Interessen und Bedürfnissen [abstrahiert], und nur die Einbringung derjenigen Verhaltensweisen [erlaubt], die einen solchen Zusammenhang nicht wesentlich stören" (Voss 1990: 38). Ähnlich wie Goffman wird hier argumentiert, dass sämtliche Bedürfnisse und Interessen von der Organisation vorgeplant werden, damit der rationale Plan zur Ausführung der Ziele der Organisation erfüllt werden kann. Die Mitgliedschaftsrolle im Altenheim und die damit verbundene Kranken- oder Patientenrolle ist darüber hinaus gekennzeichnet durch die Unfreiwilligkeit ihrer Ausübung, durch die Nichtverantwortlichkeit des Betroffenen für sich selbst, durch die abgestufte Herausnahme des Betroffenen aus familiären, behördlichen, staatsbürgerlichen und sozialen Verpflichtungen nach dem Grad der Hilfsbedürftigkeit, durch die Akzeptanz der Unmöglichkeit einer völligen Rehabilitation und durch die Akzeptanz des Betroffenen, dass er auf Dauer in einer Hilfsagentur leben und mit ihr zusammenarbeiten muss (S. 40ff.). Zusammenfassend lassen sich die Strukturmerkmale dieser Rollen unter die Begriffe weitgehender Fremdbestimmung, Unterordnung und Abhängigkeit subsumieren, woraus sich ein passives, untergeordnetes und eingeschränktes Verhaltensmuster ergibt. Es bleibt zu prüfen, inwieweit ein Zusammenhang zwischen dieser Rollenfestlegung und dem Kontaktverhalten der Bewohner feststellbar ist. Voss stellt diesbezüglich fest, dass auch "die Patientenrolle aufgrund ihrer passiven Anlage Kontaktaufnahmen mit der sozialen Umgebung unterdrückt" (S. 42). Die weitgehend negativ besetzte Bewohnerrolle im Altenheim lässt auf eine Fülle von Konfliktpotentialen schließen, die sich dann in Formen des physischen oder psychischen Rückzugs äußern können, da die gesellschaftlich wünschenswerte Rolle des Heimbewohners keiner freiwilligen Zustimmung entspricht.
Eine Möglichkeit, den Rollenkonflikt, welcher in mangelnder Klarheit über die Abgrenzung und Bedeutung der Rolle im Heim besteht, zu "lösen", ist die nach außen gezeigte Distanz zur jeweiligen Rolle - die Rollendistanz. Sie wurde als Konzept der Rollentheorie von Goffman in die Soziologie eingebracht und entstammt seinem Forschungsprogramm zur "Interaktionsordnung" (interaction order), wo vor allem das Selbst als solches eine zentrale Rolle spielt. Hiernach sind die verschiedenen Positionen, Rollen und Rollenbeziehungen (eine Rollenbeziehung ist die Beziehung zwischen Akteuren, die durch die entsprechenden Rollenerwartungen definiert wird), die ein Akteur hat, in ihrer Bewertung nicht gleich, sie haben einen unterschiedlichen Wert bzw. Status. Entsprechend unterscheiden sich in ihrer Bewertung aber auch die verschiedenen sozialen Identitäten, die einem Akteur in seinem Rollenhandeln zugeschrieben werden oder die er sich selbst zuschreibt. Rollendistanz eröffnet hier nun die Möglichkeit, die Zuschreibung unerwünschter Identitäten abzuwehren und eine andere attraktivere Zuschreibung anzustreben, auch wenn die Verhältnisse nichts anderes erlauben, als mitzumachen. Wer in der Lage ist, sich von unerwünschten Rollenzuschreibungen zu distanzieren, dem ist es nicht gleichgültig, welche Positionen er bekleidet, welchen Wert oder Status die verschiedenen Rollen haben und welche soziale Identität ihm zugeschrieben wird. Rollendistanz bedeutet also eine aktive und unermüdliche Auseinandersetzung mit den zugeschriebenen Rollen. Nach Esser ist Rollendistanz ein Problem der Optimierung: "Der Rollenspieler sieht sich in der betreffenden Situation zwar verpflichtet, die Rolle auszuüben, er empfindet jedoch einen inneren Widerstand dagegen, insbesondere, weil die bruchlose Ausübung der Rolle ein symptomatisches Ausdruckszeichen für eine eigentlich nicht gewollte Identitätszuschreibung darstellt" (Esser 2000:181). Einem Bewohner in einem Altenheim werden Hilflosigkeit, Unselbständigkeit und Unfähigkeit in Bezug auf Angelegenheiten des täglichen Lebens (Einkaufen, Kochen, Putzen, finanzielle Anliegen regeln usw.) und/oder auf die Pflege des Körpers (waschen, an- und auskleiden, Ausscheidung, essen usw.) zugeschrieben. Da Hilflosigkeit und Unselbständigkeit sich häufig im Zuge einer Krankheit oder eines chronischen Leidens ergeben, bedeutet diese Zuschreibung für den Bewohner eines Alten- oder Pflegeheims gleichzeitig die Zuschreibung der Rolle eines Kranken, und zwar i. d. R. der Rolle eines dauerhaft Kranken, der nicht wieder (vollständig) gesundet (denn sonst könnte der Bewohner das Heim ja irgendwann wieder verlassen). Die Zuschreibung einer dauerhaften, irreversiblen, hilflosen Krankenrolle ist nun alles andere als akzeptabel. Die Frage lautet, ob, und wenn ja, wie ein Bewohner den Eindruck kontrollieren, steuern und ggf. beeinflussen kann, den er auf die anderen Akteure in seinem Umfeld vor dem Hintergrund dieser Zuschreibung macht, zumal sich der Akteur oftmals dieser Zuschreibung, dadurch, dass Zeichen von Krankheit oder Behinderung wie Fortbewegung im Rollstuhl oder das Tragen von Hüftprotektoren zur Vermeidung von Stürzen, offensichtlich also unleugbar sind, nicht entziehen kann. Äußerliche Merkmale von Hilflosigkeit können also nicht einfach geleugnet werden. Die einfachste Möglichkeit ein positives Selbstbild zu erzeugen ist die, sich sprachlich von der ihm zugeschriebenen Rolle zu distanzieren, indem der Bewohner in der Kommunikation mit anderen nur Informationen weiter gibt, die auf seine Selbständigkeit und Aktivität hindeuten - der Bewohner versucht sich also, ins beste Licht zu rücken. Oder aber es werden andere "Tricks" angewendet: Bewohner mit eingeschränktem Sehvermögen versuchen, sich wie Sehende zu bewegen, Fragen, die nicht verstanden wurden, werden trotzdem beantwortet usw. Ein ungebrochen hilfloses und unselbständiges Handeln wäre rollenkonform und würde somit den Eindruck an die anderen Akteure vermitteln, dass der Bewohner mit der ihm zugeschriebenen Rolle und der damit verbundenen sozialen Identität zufrieden und einverstanden ist. Als selbständig und aktiv betrachtet zu werden stellt andererseits im Heim nicht unbedingt einen erstrebenswerten Zustand dar, da dies nicht immer Belohungen wie ein höheres Ansehen zur Folge haben muss, sondern - im Gegenteil - auch Sanktionen in Form von weniger Aufmerksamkeit, weniger Beachtung seitens des Pflegepersonals nach sich zieht. Der Bewohner in einem Altenheim fühlt sich demnach hin und her gerissen: zum einen möchte er sich von der ihm zugeschrieben Rolle distanzieren, da sie keinen besonders hohen Status genießt und somit sein positives Selbstbild eher gefährdet. Zum anderen werden gerade durch die Konformität mit der Rolle oder gar die Verinnerlichung der Rolle jene Wirkungen erzielt, die sein Wohlbefinden stärken. Rollendistanz - also die demonstrierte und inszenierte Differenz zwischen Individuum und Rollenerwartung - ist im Heim nur eingeschränkt vorstellbar und wird vermutlich auch nur von einigen, erfolgreich oder nicht sei dahin gestellt, betrieben, da dies bedeutet, Ausdruck und Informationen, die der Bewohner von sich vermittelt, gezielt kontrollieren zu können, um so eine möglichst günstige Identitätszuschreibung zu erhalten (Esser 2000: 180). Ob ein Bewohner in der Lage ist, die ihm zugeschrieben Rolle zu spielen und gleichzeitig zum Ausdruck bringen kann, noch etwas anderes zu sein als krank, hilflos und alt, kann in unserer Untersuchung nur am Rande berücksichtigt werden. Möglicherweise spielt die Unmöglichkeit im Heim, noch eine andere, prestigeträchtige Identität zum Ausdruck zu bringen, dahingehend eine Rolle, dass man sich nicht gerne mit den anderen Bewohnern auseinandersetzt und auch keine Nähe wünscht, da diese genau das präsentieren, was man selber zu vertuschen versucht, nämlich eine wenig wünschenswerte Identität.